Lev Vinocour, der Meisterpianist auf dem Monte Brè bei Lugano. Sein Kredo: Keine Musik ohne Geist. Ein Film aus der Reihe "Berg und Geist" von 3sat.
Lev Vinocour, der Meisterpianist auf dem Monte Brè bei Lugano. Sein Kredo: Keine Musik ohne Geist. Ein Film aus der Reihe "Berg und Geist" von 3sat.
Ein frühes Testament, gescheiterte Ehepläne und eine halbe Karriere als Priester: Auf den ersten Blick liegt das letzte Lebensdrittel von Franz Liszt (1811- 1886) im Schatten früheren Glanzes. Dabei schuf Liszt in dieser Zeit die visionärste Musik seines Lebens. Meisterpianist Lev Vinocour folgt der Spur des alternden Ex-Stars von Weimar nach Rom und schließlich nach Bayreuth und fördert Überraschendes - nicht nur für Musik-Fans - zutage.
Solchermaßen entzückt beschrieb RONDO-Kritiker Tom Persich vor einiger Zeit Lev Vinocours Einspielung sämtlicher Schumannetüden. Und obwohl er schon mit 13 Jahren in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg unter Mrawinskij debütierte, entwickelte sich seine Karriere ohne viel Hype und Hektik. Umso besser für die Tiefendimension und die Virtuosität seines Spiels – denn bei ihm darf durchaus »gedacht« werden.
Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf am besten?
Die Fähigkeit, mit meinem Spiel seelische und damit verbundene physische Vorgänge mancher Zuhörer POSITIV beeinflussen zu können, wie es in einem Brief, den ich nach dem Konzert im Passauer Festival »Europäische Musikwochen« bekam, geschrieben stand. Im Angesicht des nahen Todes schrieb eine schwerstkranke Frau, dass es mir gelungen sei, für eine Stunde ihre unerträglichen Schmerzen zu lindern. Für solche Momente lohnt es sich erst, überhaupt zu leben!
Was missfällt Ihnen an Ihrem Beruf am meisten?
Es ist das unaufhörliche, nach innen gerichtete Verlangen nach dem Ideal und die ebenfalls unaufhörliche Unzufriedenheit mit dem gegenwärtig Erreichten.
Wer hat Sie am meisten in musikalischen Dingen beeinflusst?
Primär selbstverständlich meine Eltern, zumal meine Mutter selbst eine prominente Pianistin und Pädagogin aus der seinerzeit so berühmten russischen Musiktradition ist. Und danach waren es mehrere hervorragende Lehrer, von denen ich jedoch einen ganz besonders hervorheben möchte: Karl Ulrich Schnabel. Das war ein Genie, und welch eine Tragödie ist es, dass ich mit ihm nur in den letzten sechs Jahren seines Lebens arbeiten konnte!
Welche Komponisten halten Sie für überbewertet, welche für unterbewertet?
Von den Überbewerteten möchte ich hier nicht reden, denn die Vorstellung ändert sich ab und zu, abhängig von Ländern und Zeiten, aber ich fand schon immer, dass Haydn viel zu selten gespielt und nicht hoch genug gewürdigt wird.
Welche Musik mögen Sie überhaupt nicht?
Die protzig-leere Musik aus den Zeiten des pangermanischen Wettstreites, wobei ich manche Werke aus der vorbereitenden Periode auch nur schwerlich ertragen kann.
Ihr Lieblingskomponist des 20./21. Jahrhunderts?
Eindeutig Sergej Prokofjew.
Welche Platte haben Sie zuletzt aus privatem Interesse gekauft?
Eine Sammlung alter Aufnahmen mit Wilhelm Furtwängler, um eben nochmals nachzuprüfen, wie tief meine Aversion gegen die in Punkt 5 erwähnte Musik sitzt.
Welches Buch lesen Sie gerade?
Dostojewskis »Der Idiot« – und das nicht zum ersten Mal.
Ihr Lieblingsschriftsteller?
Aus dem gerade Gesagten folgt auch unmissverständlich, dass Dostojewski zusammen mit Lev Tolstoj zu meinen Lieblingsautoren zählen. Aber wenn ich mich schlecht fühle, schlägt mein Herz einzig und alleine für Agatha Christie! Alles in allem lese ich auf Deutsch, Englisch, Russisch und Italienisch fast schon beängstigend viel!
Wenn Sie nicht Musiker geworden wären, welchen Beruf hätten Sie dann gerne ergriffen?
Ich schreibe sehr gerne und beschäftige mich mit der Historie wie auch mit Kulturgeschichte überaus gerne. Also wäre ich irgendwo im humanistischen Bereich zurechtgekommen.
Was, glauben Sie, fehlt der klassischen Musik unserer Zeit am meisten?
Der Mut! Der Mut, eine eigene Meinung zu haben, und diese auch zu vertreten und zu verteidigen. Vieles ist zu labil und angepasst geworden. Man gibt sich lediglich darum besorgt, Routine als Ereignis verkauft zu bekommen.